Im Porträt Wut als Antrieb: Fotograf Vincent Haiges zeigt vergessene Konflikte

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Vincent Haiges mit seiner Kamera
Fotojournalist Vincent Haiges. Bild: Vincent Haiges

Mit seinen Bildern erzählt Vincent Haiges Geschichten, die Menschen zwischen den Fronten eines Konfliktes erleben. Eines seiner Fotos ist in diesem Jahr mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet worden.

Vincent Haiges mit seiner Kamera

Gesprächszeit Vincent Haiges erzählt Geschichten von Menschen zwischen den Fronten

Fotograf Vincent Haiges zeigt Kriegsgebiete und Menschen auf der Flucht. Eines seiner Fotos wurde in diesem Jahr mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet.

Bild: Vincent Haiges

Wenn er an seine Kindheit in den Neunzigern in Worms zurückdenkt, fällt Vincent Haiges zum Thema Krieg als erstes seine Freundin Anka ein. Sie und ihre Familie waren damals während des Balkankrieges aus Sarajevo geflohen. Sie erzählte dem damals Achtjährigen von der Belagerung ihrer Heimatstadt: "Diese Vorstellung, dass es dort Menschen gibt, die auf andere schießen, obwohl sie sie nicht kennen, war für mich absurd."

Orte, die wenig Aufmerksamkeit bekommen

Heute reist Vincent Haiges in Kriegs- und Krisengebiete, um Lesern deutscher und internationaler Medien zu zeigen, wie es vor Ort aussieht. Oft reist er auch an Konfliktorte, die nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. Wenn er auf den Auslöser drückt, denkt er dabei wenig nach – welche Fotos er tatsächlich in einem Foto-Essay veröffentlicht, ist dagegen eine wohlüberlegte Entscheidung: "Ich probiere mich daran zu erinnern, wie sich die Situation angefühlt hat, wie sie gerochen hat, wie die Grundstimmung war. Und dann schaue ich, welches von den Bildern dieses Gefühl am besten transportiert."

Bisher hat mich die Wut noch nicht ohnmächtig gemacht, sondern gibt mir eher Antrieb.

Vincent Haiges darüber, was das, was er sieht, in ihm auslöst

Auf zwei Projekte hat Haiges sich spezialisiert. Zum einen begleitet er seit vier Jahren Menschen, die aus ihrem Land flüchten. Er hat im Niger, in der Sahara und an europäischen Außengrenzen fotografiert und war vor Ort, als im September 2022 das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos brannte. "Das war der Moment, wo ich gesagt habe, ich will dieses Thema Außengrenzen, Gewalt an Außengrenzen und vor allem auch die Verschiebung von Außengrenzen (...) machen." Was er dabei zu sehen bekommt, macht Vincent Haiges oft wütend, aber er sagt auch: "Bisher hat mich die Wut noch nicht ohnmächtig gemacht, sondern gibt mir eher Antrieb."

Schein von Normalität in der Ukraine

Das zweite große Projekt ist die Dokumentation des Ukraine-Kriegs. Im Februar 2022 ahnte Haiges bereits, dass das Land am Schwarzen Meer eines seiner nächsten Ziele sein könnte. Als am 24. Februar die ersten Bomben Richtung Kyjiw und Charkiw abgefeuert wurden, machte er sich direkt ohne konkreten Auftrag auf den Weg: "Ich habe sofort gespürt, du musst dahin fahren!" In den Städten hat er die absurde Gleichzeitigkeit von vollen Cafés neben den Geschichten von verstorbenen Angehörigen gespürt: "Wie so ein Schein von Normalität. Aber die ist sehr brüchig. Wie ein ganz dünnes Papier. Auf einmal zerreißt sie und es gibt eine Explosion."

Wenn man jetzt an die Front fährt, dann sind die größte Gefahr Drohnen.

Vincent Haiges über Risiken seiner Arbeit

Jede Reise braucht eine andere Vorbereitung. Zu Vincent Haiges' Grundausrüstung gehören Verbandszeug, eine kugelsichere Weste und ein Helm. Bevor er in eine Krisenregion fährt, trägt er Informationen von Kollegen zusammen, recherchiert Gefahren und Besonderheiten. Inzwischen haben sich zum Beispiel der Krieg in der Ukraine und seine Gefahren für Berichterstatter verändert: "Wenn man jetzt an die Front oder Frontabschnitte fährt, dann sind die größte Gefahr Drohnen."

World Press Photo Award für ein Wiedersehen

Foto von Vincent Haiges zeigt die Umarmung eines Kriegsrückkehrers aus Tigray mit seiner Frau.
Das preisgekrönte Bild "Returning home from war". Bild: Vincent Haiges

Auch wenn er oft schreckliche Geschichten hört und brutale Dinge sieht, kann Vincent Haiges seiner Arbeit immer auch etwas Positives abgewinnen: "Jede Reise und jede Begegnung schenkt einem auch etwas." Sein Bild "Returning home from war" ist in diesem Jahr mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet worden. Es zeigt den 24-jährigen Kibrom, der das erste Mal seine Mutter umarmt, seit er zwei Jahre zuvor in den äthiopischen Bürgerkrieg in der Region Tigray gezogen war. "Das ist einer der blutigsten Konflikte des 21. Jahrhunderts. Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als eine halbe Million Menschen gestorben sind. Der aber sehr, sehr wenig Medien-Aufmerksamkeit bekommen hat", erzählt Haiges. Als ein Waffenstillstand vereinbart worden war, besuchte Haiges in der Hauptstadt Mekele ein Rehabilitationszentrum für Menschen mit Prothesen und lernte dort den jungen Soldaten Kibrom kennen. "Und dann sind wir zusammen in den Norden von Tigray gefahren in sein Dorf und sind dann zu seinem Haus gelaufen. Und das Bild ist dann wirklich ganz schnell passiert. Ich habe nur von links gesehen, wie ein weißer Schleier vorbeizieht." Am Ende entstand ein Bild, dass eine universelle Kraft ausstrahlt: "Dieses Nach-Hause-Kommen, seine eigene Mutter zu umarmen, wenn etwas Schlimmes vorgefallen ist. Ich glaube, da kann jeder, der das Bild sieht, eine Verbindung zu herstellen."

Ich bin da zu Hause, wo ich gerade bin.

Vincent Haiges darüber, wo er sich zu Hause fühlt

Visuelle Kommunikation war schon in Haiges' Kindheit immer präsent. Seine Mutter arbeitete als Schauspielerin, seine Großmutter war Malerin. Doch die Fotografie kam erst spät in sein Leben. Studiert hat der heute 36-Jährige Politikwissenschaften in Wien und in London. Nach dem Master und einem Praktikum bei der Deutschen Welle ging Haiges 2017 nach Gambia in Westafrika und machte dort seine ersten Fotos für internationale Publikationen. 2018 und 2019 lebte er im Irak und war dort zeitweise der einzige deutschsprachige Fotograf vor Ort. Auf die Frage, wo denn heute sein Zuhause sei, muss Vincent Haiges lachen. "Nicht in Berlin und nicht in der Ukraine", schmunzelt er. "Ich bin da zu Hause, wo ich gerade bin, würde ich sagen."

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Gesprächszeit, 07.Oktober 2024, 18:05 Uhr

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