Was macht die Kunst? Flucht vor der Kritik von Pere Borrell del Caso
Standdatum: 13. Oktober 2024.
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Im Wahlkampf um die Präsidentschaft in den USA geht es nicht nur um Fakten, sondern auch um Fiktionen und sogar Lügen. Dass sich Menschen mitunter bereitwillig täuschen lassen, das wusste schon die Kunst vor 150 Jahren.
Das Gemälde "Flucht vor der Kritik" von Pere Borrell del Caso entstand 1874. Es zeigt einen neugierigen Jungen, der seine Augen weit aufreißt und aus einem aufgemalten Bilderrahmen herausklettert. Er will also den imaginären Raum der Kunst verlassen, um in unseren Raum, den Betrachterraum, einzutreten. Das geht natürlich nicht, und deswegen lautet der ursprüngliche Titel des Gemäldes "Una cosa que no pot ser", zu Deutsch: Ein Ding der Unmöglichkeit. Erst später kam der Titel "Flucht vor der Kritik" auf. Der Knabe ist so realistisch gemalt, sein Holzrahmen auch, dass man im ersten Moment tatsächlich stutzt. Erst recht wird das den Menschen 1874 so gegangen sein, die ja noch nicht jeden Tag Fotos gesehen haben wie wir. Das ist Trompe-l’œil, die große Kunst der Augentäuschung. Maler wie Pere Borrell del Caso wurden geliebt für ihre Kunst, uns reinzulegen.
Der Illusionismus wurde schon in der Antike bewundert. Der Maler Zeuxis soll Weintrauben so realistisch gemalt haben, dass Vögel nach seinem Bild pickten. Interessant sind besonders die Momente, wo mit Illusionen und Manipulationen Politik gemacht wird. Im Barock entstanden Deckengemälde in den großen katholischen Kirchen, in denen sich der ganze Himmel zu öffnen schien, mit Engel, Sonne, Licht und Heiligen. Sie sollten die Menschen überwältigen, ihnen Ehrfurcht abverlangen und sie davon abhalten, zu den bilderscheuen Protestanten überzulaufen. Die Fronten waren verhärtet.
Die USA erleben heute gerade einen unerbittlichen Lagerwahlkampf, indem sich beide Parteien nicht einmal auf die Fakten einigen können. Das liegt daran, dass sich die Republikaner um Donald Trump von der Realität stückweit verabschiedet haben und Narrative, die ihnen nützen, aufblähen oder gleich erfinden. Ein Meister darin ist J. D. Vance, der republikanische Vizekandidat. Seine Vergangenheit als Bestsellerautor hilft ihm ungeheuer. Er verwischt die Grenze von Fiktion und Realität, klettert so quasi aus dem Bilderrahmen heraus wie bei Borell del Caso – und er lügt dafür.
Es gibt jedoch einen großen Unterschied zur Trompe-l’œil-Malerei: Die Täuschungen von rechtspopulistischen Scharfmachern wie J.D. Vance werden von vielen weiter geglaubt, auch wenn sie längst enttarnt worden sind.