Was macht die Kunst? Selbstmord der Lucretia von Lucas Cranach der Ältere
Standdatum: 27. Oktober 2024.
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Im französischen Avignon stehen 51 Männer wegen Vergewaltigung vor Gericht. Das Opfer, Gisèle Pélicot, sucht ganz bewusst die Öffentlichkeit, um anderen Betroffenen zu helfen. Kein Opfer müsse sich schämen, sagt Pélicot, wohl aber die Täter. Nun reicht die erzwungene Scham, insbesondere von Frauen über erlittene Gewalt, lange zurück. Was die Kultur- und Kunstgeschichte damit zu tun haben, erklärt unsere Kunstkolumnistin Kia Vahland.
Ein Beispiel ist das Gemälde "Selbstmord der Lucretia", das Lucas Cranach der Ältere (1472-1553) zwischen 1524 und 1530 malte. Es handelt sich um ein extremes Format von 194 Zentimetern Höhe. Mit leicht verdrehtem Unterleib erhebt sich eine Frau nackt und einsam vor schwarzem Grund. Ihr offenes, rötliches Haar flattert ihr bis über die Hüfte; der breite Halsschmuck lässt die Frau beinahe wie angekettet erscheinen. Sie spannt ein transparentes Tuch über ihre Schenkel, aber das verdeckt gar nichts. Ihr Körper ist jung, schlank und unversehrt. Und dann blickt die Figur die Betrachtenden traurig an und zückt einen Dolch, um sich zu erstechen.
Warum will sich Lucretia umbringen, obwohl sie doch das Opfer ist? Der Sage nach soll die Römerin Lucretia um 500 vor Christus von einem Prinzen sexuell genötigt worden sein. Sie wurde vergewaltigt und tötete sich danach aus Scham. Daraufhin soll ein Aufstand ausgebrochen sein. In der Renaissance aber wurde oft weniger das enorme Unrecht thematisiert als vielmehr die Tat beschönigt. Dem Opfer wurde die Schuld zugeschoben mit Fragen wie: Hat Lucretia den Prinzen etwa durch ihre Keuschheit und Schönheit verführt? Und hat sie sich wirklich aus Standhaftigkeit getötet, oder war der Grund nicht doch Scham über die eigene Lust? Cranach ist da offenbar keine Ausnahme – im Gegenteil: Er zeigt zwar die Melancholie der Lucretia, aber im Grunde begeht er einen weiteren Übergriff, indem er die Vergewaltigung herunterspielt. Er macht uns zu Voyeuren.
Die Französin Gisèle Pélicot ist hundertfach vergewaltigt worden. Ihr eigener Ehemann hatte die Taten vorbereitet und sogar gefilmt. Das Opfer bestand darauf, dass die brutalen Videos vor Gericht gezeigt wurden, denn Gisèle Pélicot will erreichen, dass die Scham endlich die Seiten wechselt (auf Französisch: La honte doit changer de camp). In Rechtsstaaten ist Vergewaltigung zwar mit hohen Strafen belegt, in Deutschland seit 1997 endlich auch in der Ehe, aber kulturgeschichtlich ist die Erwartung tief verwurzelt, dass sich die Opfer zu schämen hätten, nicht die Täter - so wie im Fall der Lucretia.
Wenigstens ein Künstler zeigt Mitgefühl mit Lucretia: Der Venezianer Tizian malte 1571 ihre Vergewaltigung als erschreckenden Akt. Er offenbart Furcht, Widerwillen und Ohnmacht in den Augen der Frauenfigur, Hass in denen des Täters. Dabei wahrt er ein Stück weit Lucretias Intimität und zeigt nicht ihren ganzen Körper. Das „Nein“ der Frau ist bei Tizian klar, der kriminelle Akt des Mannes auch. Das Gemälde fragt: Auf wessen Seite stehen wir? Und wen trifft die Schande? Es sind die Fragen, die sich heute wieder stellen, nicht nur im Fall Pélicot.