Die Morgenandacht Stärker als der Hass

Ulrike Bänsch
Ulrike Bänsch

Die Morgenandacht Stärker als der Hass

Pastorin Ulrike Bänsch erzählt von ihrer Großtante Anneliese, die alle Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts hautnah erlebte.

Bild: Bremische Evangelische Kirche

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Pastorin Ulrike Bänsch erzählt von ihrer Großtante Anneliese, die alle Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts hautnah erlebte.

Meine Großtante war eine großartige Erzählerin. Sie wurde 1915 geboren, wuchs in einem kleinen schlesischen Dorf bei Schweidnitz auf und hat als junge Frau den zweiten Weltkrieg erlebt. Sie bewirtschaftete in dieser Zeit mit ihrem Mann einen Bauernhof. Als er in den Krieg an die Front musste, war sie gerade schwanger. Der Sohn, der 1944 geboren wurde, hat seinen Vater nie kennengelernt. Später führte der Lebensweg meiner Großtante über Aschersleben nach Bremen.

Mir ist sie zum ersten Mal begegnet als ich ein kleines Mädchen war. Sie hat mein Heranwachsen geprägt. Häufig habe ich zu ihr gesagt: „Tante Anneliese erzähl mir von früher.“ Dann hat sie sich hingesetzt und ihr vergangenes Leben kam zum Vorschein. Sie hat erzählt von ihrer Kindheit mit vielen Geschwistern auf dem kleinen ärmlichen Hof. Sie konnte anschaulich berichten, wie damals alle Kartoffeln ernten und Bohnen schneiden mussten oder wie sie sich über die hochnäsigen Töchter der Adeligen im Dorf geärgert haben. Sie konnte die Charaktere von Menschen so beschreiben, dass du sie ganz lebendig vor Augen hattest. – Je älter und erwachsener ich wurde, desto mehr hat sie mir auch die schweren und abgründigen Seiten ihrer Lebenserinnerungen zugemutet. Es gab Geschichten von furchtbaren Bombardierungen im Krieg, denen sie zufällig knapp entgangen ist, Geschichten von Soldaten, die Frauen vergewaltigten, Geschichten von Folter und Mord, wie Menschen sie auch heute erleben. Geschichten, die einfach nicht aufhören wollen.

Aber nie hat Tante Anneliese es versäumt, ebenso von den Lichtblicken in dunkler Zeit zu berichten. Sie konnte zum Beispiel von der Familie erzählen, die einen feindlichen Soldaten halb erfroren und verwundet auf dem Feld fand, ihn mit nach Hause nahm und gesund pflegte. Sie konnte erzählen von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, die ihrem Bauernhof zugeteilt wurden. Sie entschieden sich dort nicht wie Feinde zusammen zu leben, sondern wie Menschen, wie Freunde trotz Krieg. Sie konnte erzählen von dem polnischen Mädchen, das in tiefster Not mit ihr das Essen teilte und sie vor den Soldaten versteckte. Sie konnte erzählen von den Fremden, die sie nach der Flucht bei sich aufnahmen, als sie nichts mehr hatte außer ihrem Leben und ihrem kleinen Sohn.

Die Botschaft ihrer Geschichten war: "Es gibt immer etwas, das stärker ist als der Hass. – Vergiss das nie." In diesen Tagen muss ich oft an ihre Erzählungen denken und an ihr Vertrauen in das Leben und in Gott, trotz allem.

Autor/Autorin

  • Ulrike Bänsch

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